Wie die Biologie uns zur Liebe eingerichete hat – und was wir als Kultur daraus machen
Allerorts wird die Zunahme psychischer und gesundheitlicher Probleme durch Stress, Einsamkeit und
Beziehungslosigkeit festgestellt. Fast jeder leidet darunter und sucht Abhilfe. Trotz Wohlstand und Frieden nehmen psychische und psychosomatische Stressfolgekrankheiten zu, misslingen viele
Beziehungen und steigt die soziale Vereinzelung an. Pädagogen und Eltern stellen eine zunehmende Unruhe und Bindungslosigkeit bei Kindern fest. Immer mehr Menschen machen sich Sorgen und Gedanken
über diese Entwicklung in Hinblick auf die Zukunft. Immer mehr Menschen stellen sich dieselben Fragen, wie auch ich: Was läuft schief? Warum sind Kinder schon häufig verhaltensauffällig, unruhig,
schlaflos? Warum nehmen psychische Störungen und Stresskrankheiten so zu? Wieso sind viele Menschen einsam inmitten von großem Wohlstand? Was ist die Ursache der vielen Beziehungsprobleme und
Trennungen?
Gesundheitsprobleme, Beziehungsschwierigkeiten und Bindungsstörungen sind alle der Ausdruck desselben Mangels: Wir beachten den biologischen Liebescode nicht. Daher fehlen Selbstliebe, Paarliebe
und Elternliebe. Sie haben alle dieselben Ursachen in einer fehlenden Liebesfähigkeit unserer heutigen Kultur, die die biologischen Bedingungen für gelingende Liebesfähigkeit nicht zur Verfügung
stellt. Wir leiden unter den Folgen des Klimawandels. Dieses Thema ist jetzt sehr publik, aber wir fragen kaum nach dem Zusammenhang zu uns selbst und unserer Liebesfähigkeit: Wie liebevoll gehen
wir mit der Natur um uns herum um und wie mit uns selbst? Weshalb entwickeln wir nicht mehr Betroffenheit und Mitgefühl?
Wenn wir das Klima und unser Überleben als Art retten wollen, müssen wir diese Fragen beantworten und vor allem unseren Umgang mit uns selbst verändern. Wir sind als biologische Lebewesen Teil
der Umwelt. Wenn wir unsere Umwelt lieben und das Klima schützen wollen, müssen wir bei uns selbst als einem Teil davon beginnen und (wieder) lernen besser liebesfähig
zu werden. Dieses Buch zeigt nötige und mögliche Veränderungen für eine bessere Liebesfähigkeit und Gestaltung der Lebensumwelt auf. Das betrifft die Fähigkeit zur Selbstliebe, Paarliebe und
Elternliebe wie auch zur Liebe zum Leben ringsum. Drei Bereiche unseres Lebens lassen hauptsächlich diese Sehnsucht nach Veränderung entstehen. Das sind:
- Selbstliebe - mit sich selbst zufrieden sein, sich wohlfühlen und gesund in einer gesunden Umwelt leben wollen
- Paarliebe - einen Partner finden, ihn lieben und erfüllte Sexualität genießen wollen
- Elternliebe - ein Baby lieben und begleiten wollen
Es sind unscheinbare Wünsche und Sehnsüchte gegenüber äußerem Status und Erfolg. Aber sie sind es, die letztlich ein erfüllendes Leben
bedeuten, die uns gesund erhalten und uns zufrieden sein lassen. Liebe heilt. Liebe und Paarbindung sind biologische Notwendigkeiten und Grundbedingungen für unser individuelles und
gesellschaftliches Überleben. Das
wurde durch die neuesten wissenschaftlichen Forschungen belegt und soll in diesem Buch dargestellt werden. Es gibt eindeutige biologische Kriterien für die Überlebensfähigkeit von Kulturen, die
der Liebescode beschreibt.
Was ist der
Liebescode?
Menschen haben sich innerhalb der Evolution so weit entwickeln können, weil sie zu tiefen und dauerhaften Bindungen auf der Basis von Liebe
und Kooperation in der Lage waren. Diese Handlungen zur Erfüllung des Liebescodes, nämlich: Kooperation, Bindung, soziale Interaktion, Paarliebe, Sexualität und
Elternliebe haben den höchsten biologischen Belohnungswert. Sie
gewährleisen biologisches Gleichgewicht und Gesundheit des Einzelnen und das Überleben unserer Art. Diese kulturellen Bedingungen, der Liebescode, haben eine viel größere Bedeutung, als bisher
gedacht wurde. Ohne sie kann weder Erholung noch Regeneration stattfinden, was zwangsläufig zu Krankheit führt.
Für mich als Biologin tauchen dabei immer wieder einige entscheidende Fragen auf: Wie hat die Evolution uns Menschen zu dem gemacht, was wir sind? Wie geht es in Zukunft mit unserer biologischen
Art Mensch weiter? Wie verändert die Kultur, in der wir leben unser Gehirn und Gefühle? Diese Themen sind heute drängender denn je. Als Menschen werden unsere sozialen Beziehungen und unsere
Liebesfähigkeit sowohl durch die Biologie bestimmt als auch durch die jeweilige Kultur beeinflusst. Die kulturellen Prinzipien können die biologischen Bedürfnisse überformen. Darin bestehen die
Chancen, wie auch die Gefahren der kulturellen Evolution, je nachdem, ob sie unsere biologischen Bedürfnisse untersützt oder ihnen entgegen verläuft. Dieses Buch beinhaltet daher die Analyse der
biologischen Evolutionsbedingungen, die unser Überleben als Art ermöglichen. Darüber hinaus werden systematisch die unterschiedlichen kulturellen Bedingungen in ihrem Einfluss auf die
biologischen Überlebensbedingungen untersucht. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob die biologische Natur des Menschen aggressiv und konkurrierend oder eher
kooperierend und liebevoll ist. Im weiteren Verlauf werden die neurobiologischen Grundlagen der wichtigsten biosozialen Prozesse untersucht. Das sind Schwangerschaft, Geburt, frühe Bindung,
Kindheit, Pubertät, Geschlechtsidentität, Liebe, Sexualität, Paarbindung sowie Mutter- und Vaterschaft - also die Bereiche von gelingender Liebe zu sich selbst, Paarliebe und
Elternliebe.
Kulturelles Handeln beeinflusst und gestaltet die Arbeitsweise unseres Gehirns. Diese Wechselwirkung von Biologie und Kultur in verschiedenen geschichtlichen Epochen wird analysiert und gezeigt, welches Erbe wir in der heutigen Zeit verinnerlicht haben: Wie werden die kulturellen Traditionen und Werte einer Kultur geprägt? Wie begegnen sich biologische und kulturelle Evolution auf im Gehirn? Wie weit und mit welchem Ergebnis haben wir unsere biologische Evolution kulturell überformt? Für unser Nervensystem ist die heutige Kultur nicht wirklich sicherer, als die Jahrhunderte der Vergangenheit. Wir überfordern die biologische Regulationskapazität unseres eigenen Organismus so, dass Gefahr für das Überleben unserer eigenen Art besteht. Aber wir überfordern ebenso die Regulationskapazität der Ökosysteme und des gesamten Klimasystems. Es besteht Gefahr für die Erde und uns selbst durch diesen Verlust Gleichgewichts der Selbstorganisation der Systeme. Wenn wir nicht rasch darüber nachdenken und unsere Lebensverhältnisse verändern, droht sowohl der Kollaps des Klimas als auch unserer Art selbst.
Was heißt es, in Einklang mit der biologischen Evolution zu leben? Mit Hilfe der Evolutionskriterien des Liebescodes lässt sich ableiten, was wir lernen können und müssen, um die dringlichsten
Menschheitsfragen in Zukunft beantworten zu können. Auf dieser Grundlage beschreibt das Buch praktikable Lösungsansätze für einige der häufigsten Probleme unserer Zeit: Stressfolgekrankheiten,
Körperentfremdung, soziale Isolation, psychische Störungen, Beziehungsschwierigkeiten sowie Auffälligkeiten bei Kindern. Dabei wird die besondere Rolle von Sicherheit und Liebesfähigkeit als die
zentralen biologischen Funktionen für das individuelle wie gesellschaftliche Überleben aufgezeigt. Das umfasst auch die Frage, welche Werte und Traditionen wir in Zukunft zur allgemeinen sozialen
Wirklichkeit werden lassen wollen. Die nötigen Veränderungen gelingen nur, indem wir den Liebescode begreifen und berücksichtigen und indem wir als Kultur wieder unsere biologischen
Notwendigkeiten in den Vordergrund stellen.
Dieses Buch sollte ursprünglich kein Buch über die Liebe werden. Während des Recherche- und Schreibprozesses bin ich jedoch auf eine weite Reise gegangen und letztendlich
bei der Liebe gelandet. Nicht bei dem romantischen Begriff, sondern bei der wissenschaftlichen, neurobiologischen Bedeutung der Liebe und ihrer Funktion in der Evolution. Es wird gezeigt,
dass
und weshalb fehlende Liebesfähigkeit typisch für unsere jetzige Zeit ist und inwiefern auch die Ursache von Krankheit. Das Fehlen von Liebe macht langfristig krank. Zur Liebe sind viele Bücher
geschrieben worden, dennoch möchte ich
noch dieses hinzufügen. Es ist wichtig, wieder das zurückzugewinnen, was uns als Art ursprünglich in der Evolution hat
entstehen lassen: Bindung, Fürsorge, Liebe und dadurch Wohlbefinden und Gesundheit. Diese umfassende Liebesfähigkeit gilt für die Liebe zu uns selbst, zu unseren Angehörigen und Mitmenschen
genauso wie für die Welt um uns herum und unser Klima.
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